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Das Studierzimmers des Rabbis Judah Mehler

3D-Rekonstruktion nach einer Buchillustration aus dem 17. Jahrhundert

Grundlage der Rekonstruktion ist eine Buchillustration aus dem Werk "Der Sefer Evronot des Judah Mehler Reutlingen", herausgegeben von Annett Martini, Dieter Bingen und Mathias Schmandt, als Überarbeitung und Neuauflage eines "prächtigen Kalenderwerkes aus dem frühneuzeitlichen Bingen".

2024, WBG-Edition, ISBN/GTIN 978-3-534-27645-5

 Buchinformation

Das hebräische Werk »Sefer Evronot« des Rabbiners Judah Mehler Reutlingen ist Mitte des 17. Jahrhunderts in Bingen entstanden.
Die erst kürzlich restaurierte Handschrift zählt zu den wertvollsten Schätzen der Staatsbibliothek zu Berlin und ist eine der eindruckvollsten jüdischen Handschriften der Frühen Neuzeit.
Auf 168 Seiten entwirft der jüdische Gelehrte eine detaillierte Anleitung zur Berechnung des jüdischen Festkalenders, die von prachtvollen Illuminierungen mit biblischen Motiven, religiösen Gegenständen, Tieren und Szenen aus der Alltagskultur der Zeit begleitet wird.
Eine Besonderheit sind die üppig verzierten Kalendarien, die für die rabbinische Kalenderberechnung verwendet wurden.
Im Rahmen familiengeschichtlicher Forschungen stieß Dieter Bingen auf den direkten Vorfahren und Verfasser des Sefer Evronot, Rabbi Judah Mehler Reutlingen.
Die einzigartige Handschrift wird hier zum ersten Mal vollständig reproduziert, übersetzt und kommentiert.
Die Erläuterungen von Annett Martini, Dieter Bingen und Matthias Schmandt zeigen die kulturhistorische Bedeutung des Manuskripts und dessen Autors. Ein faszinierender Beitrag zur jüdischen Buchkunst!

Zusammenfassung
Die hebräische Handschrift »Sefer Evronot« des Rabbiners Juda Mehler Reutlingen entstand 1649 in Bingen.
Sie zeichnet sich durch ihre seltene künstlerische Qualität aus und gehört zu den eindruckvollsten Handschriften der jüdischen Frühneuzeit in Mitteleuropa. Zum ersten Mal wird die Handschrift vollständig reproduziert, übersetzt und kommentiert. .


 

Einleitung

Buchillustrationen aus dem 17. Jahrhundert - oft von den Buchautoren selbst angefertigt - stellen eine besondere Herausforderung dar, wenn es darum geht, sie als Vorlage für realistische “Nachbauten” zu verwenden.
Entgegen der durchaus von Malern aus jener Zeit schon vorhandenen und sehr effektiv angewendeten Kenntnisse von Raum und Perspektive, bewegten sich Buchillustratoren, zumal sie meist auch die Buchautoren und ohne Kenntnisse der Malerei waren, noch in der in der traditionellen Form von Abbildungen mit vorwiegend symbolischer Bedeutung der Details.
Ihre Bilder waren in diesem Sinne eher chiffriert.
Nicht nur was die Lage im Raum, sondern auch die relative Größe und Anzahl der abgebildeten Gegenstände im Verhältnis zueinander angeht, besteht daher keine zwingende Notwendigkeit einer 1:1 Übernahme.
Vielmehr ist jedes Detail auf der Zeichnung eher verbunden mit der Bedeutung, die ihm zugeordnet wurde.


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Ein Überblick


 Abb. 1  Das Studierzimmer des Judah Mehler

Im Raum sitzen, bzw. stehen zwei Personen an einem großen Tisch, die vor aufgeschlagenen Kodices lebhaft diskutieren. Der auf dem Stuhl mit der hohen Lehne Sitzende ist vermutlich der Verfasser Rabbi Judah Mehler selbst, der andere ein Gast. Die auf dem Tisch platzierten Insignien zeugen von ihrem Rang und ihrer forschenden Tätigkeit. Die Insignien deuten auf einen alchemistischen Hintergrund hin: in ihnen versteckt vemutlich die Elemente Wasser (Schale), Erde (Schichten), Feuer (Zungen), Luft (Vogel)...
(Es gibt nicht viele Abbildungen solcher Insignien, was jedoch bekannt ist, ist dass sie oft nur symbolisch in Bilder eingefügt wurden, um den Stand der abgebildeten Personen zu kennzeichnen, jedoch nicht als reale Gegenstände gemeint waren)

 

Regal rechts neben der TuerBetritt man den Raum durch die Zimmertür, sieht man rechts ein Regal, das in der Recherche besonders viel Mühe gemacht hat.
Neben den eindeutig erkennbaren Gegenständen, wie Kanne, Kiste, Wasserschale, Handtücher, Pfanne mit halb geöffnetem Deckel, sind ebenfalls eine Art Samovar, Kellen oder Flaschenkürbisse, eine Lampe mit Brenner, ohne Glas und am Ende eine metallene Konstruktion auf runden Füßen zu sehen, der offenbar einen gusseisernen Ofen darstellen soll.

Die erste sich aufdrängende Interpretation war, dass es sich um eine Art "Küchenecke" handelt, in die auch das Geschirr der gegenüberliegenden Wand integriert wurde. Dass sich dies jedoch unter Einbeziehung der kulturellen und religiösen Hintergründe völlig anders darstellen würde, werde ich auf der Seite "Recherche und Revision" näher erläutern

Abb. 2 Das Küchenregal

 

Regal links neben der TuerDie Regale links neben der Tür sind belegt mit Kodices, erkennbar an den Verschlüssen. (Ein Kodex scheint mit einem Schloss versehen zu sein)
Die schweren Bücher nehmen, von Seiten des Inventars den größten Raum auf dem Bild ein. Rabbi Mehler war neben seinen alchemistischen Forschungen auch Kabbalist.
Kabbalisten vertiefen sich in die komplexe Symbolik und die metaphysischen Konzepte religiöser Texte. Sie glauben, dass es verborgene Bedeutungen und geheime Weisheiten gibt, die durch das Studium und die Kontemplation dieser Texte enthüllt werden können. Daraus ergibt sich notwendigerweise das Vorhandensein einer umfangreichen Bibliothek.
Die Bildsymbolik hebt die Bedeutung der Kodices durch die dargestellte gegenständliche Größe hervor. Ob es sich dabei tatsächlich um nur zwei Regalebenen mit überdimensionierten Büchern handelt, ist daher in Frage zu stellen.

Abb. 3 Das Bücherrregal

 

Regal links neben der TuerIm weiteren befinden sich in den Regalen auf der folgenden Seite des Raumes Teller, Karaffen und Becher, die vermutlich für religiöse Feste vorgesehen sind. In und neben dieses Regal wurden - um das Bild abzurunden - weitere Alltagsgegenstände und Instrumente integriert, die nicht auf dem Original zu sehen sind, aber durchaus zum Studienalltag des Judah Mehlers gehörten.
So wurde die Möblierung dieser Raumseite auch durch zwei kleine Schränke mit z.B. Elexieren und Schriftrollen erweitert.

Abb. 4 Das Küchenregal

 

Fenster und BalkenAuf der Fensterseite, die gegenüber der Zimmertüre gelegen ist, sieht man auf den ersten Blick vier Fenster mit unterschiedlich und unregelmäßig verteilten Fensterkreuzen, offenbar mit Butzen- bzw. Bleiglasfüllungen. Es ist jedoch zu vermuten, dass in die chiffrierte Darstellung der Fenster ebenfalls ein nicht verputztes Fachwerk angedeutet wurde, dessen realistische Darstellung mit seiner komplexen Balkenstruktur den Kern der Bildaussage gestört hätte, jedoch wohl beiläufig erwähnt werden sollte. Weiterhin ist die Andeutung von Regalen mit Stützen anstelle von Schränken (unklar!) ein Hinweis auf ein in den Innenräumen notwendigerweise sichtbares Fachwerk:
In einem Gefache wäre das Anbringen von Regalstützen der dargestellten Art nur schwer möglich gewesen.

Hinweis: in der Darstellung der Fenster befindet sich ein Vogel, der an einem Knich, oder Sufganiyot (rundes jüdisches Gebäck) pickt. In der jüdischen Tradition wird der Vogel oft als Seele dargestellt. Die Legende besagt, dass die Seelen der Verstorbenen nach ihrem Tod aufsteigen und durch das Fenster in ihr ehemaliges Heim zurückkehren, um ihre lebenden Verwandten zu besuchen. Das Brot, an dem der Vogel pickt, symbolisiert die Gastfreundschaft und die Versorgung der Seele durch die lebenden Familienmitglieder. Diese Darstellung ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Illustration viele symbolisch gemeinte Details aufweist, die nicht real-gegenständlich gemeint sind. Da es in diesem Fall jedoch eine Symbolik ist, die Judah Mehler wohl am Herzen lag, wurde sie trotzdem grafisch umgesetzt.

Fenster mit Vogel

Abb. 4 Der Gast im Fenster

 

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